von Larissa Bender
Mit Larissa Benders Beitrag über das Europäische Übersetzerkollegium in Straelen starten wir eine Reihe, mit der wir als Digitale Weltlesebühne einen ganz besonderen Aspekt des Literaturübersetzens sichtbar machen: Wir werden Übersetzerhäuser und -kollegien an den unterschiedlichsten Orten vorstellen. Hierbei lassen wir Übersetzerinnen und Übersetzer zu Wort kommen und von ihren individuellen Erfahrungen und Erlebnissen, von Begegnungen mit anderen Übersetzenden und vom interkulturellen Austausch berichten.
Unsere WLB-Kollegin Larissa Bender ist Übersetzerin aus dem Arabischen. Ihr ganz besonderes Interesse gilt neben dem Hocharabischen dem syrischen Dialekt. Sie ist zur Zeit Translator in Residence im EÜK und berichtet ganz aktuell und hautnah.
Ein Übersetzerhaus am Niederrhein
»Wooo bist du??? In Strälen? Wo ist das denn?« «Nein, in Stralen. Straaalen, nicht Strälen.« »Aber das schreibt man doch mit e!« »Jaaa, aber das ist ein niederrheinisches Dehnungs-E.«
Mit Übersetzer:innen müsste man ein solches Gespräch wahrscheinlich nicht führen, denn in dieser kleinen »Blumen- und Gemüsestadt« am Niederrhein, kurz vor der niederländischen Grenze, steht das Europäische Übersetzer-Kollegium, das vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wird.
Ins Leben gerufen wurde dieses »weltweit erste und größte internationale Arbeitszentrum für professionelle Literatur- und Sachbuch-Übersetzerinnen und Literatur- und Sachbuchübersetzer« nach dem historischen Vorbild des Übersetzerzentrums von Toledo im Jahr 1978. Der eigens gegründete Verein „Europäisches Übersetzer-Kollegium Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V.“ war und ist der Träger des EÜK. Stark gemacht für das Zentrum hatten sich zum einen der Exklusivübersetzer Samuel Becketts, Elmar Tophoven, nach dessen Wunsch das zu gründende Übersetzerhaus in einem Gebiet liegen sollte, »das auf halber Strecke der europäischen Autobahn E3 liegt, die Helsinki mit Lissabon verbindet«*, zum anderen der Übersetzer und damalige Vorsitzende des Verbands der literarischen Übersetzer Klaus Birkenhauer, dessen Frau Renate Birkenhauer heute Vizepräsidentin des Kollegiums und die Seele des Hauses ist.
Nach intensiver Suche in dieser von Tophoven bevorzugten Region war man schließlich in Straelen fündig geworden. Fünf alte Häuser in der Kuhstraße, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche St. Peter und Paul, wurden dem Verein von der Stadt Straelen zur Verfügung gestellt und miteinander verbunden – »darunter zufälligerweise das Haus, in dem Elmars Vater seine Arztpraxis hatte und er am 23.März 1923 geboren wurde«. Der Umbau – oder Durchbau – war äußerst kompliziert, da alle Häuser unter Denkmalschutz standen, gleichzeitig musste der Architekt Hubert von Ooyen aber ein an modernen Bedürfnissen ausgerichtetes Gebäude entstehen lassen. Den Mittelpunkt der fünf Häuser bildet das heutige Atrium, dessen Glasdach sich im darunter liegenden Mosaikboden »spiegelt«.
Der Umzug aus dem 1980 bezogenen Provisorium in der Mühlenstraße in das neue Domizil fand im Jahr 1985 statt, 1992 wurde dem EÜK noch ein sechstes Haus, eine ehemalige Bäckerei, mit weiteren Gästezimmern zugeschlagen und durch einen Hochtunnel mit dem Ursprungshaus verbunden. In diesem »Seminarhaus« genannten Teil finden insbesondere Seminare und Workshops statt.
Wie gut diese Arbeitsmöglichkeiten von den Übersetzer:innen angenommen wurden, belegen die Zahlen: 2019, im letzten Jahr vor der Covid-Pandemie, zählte das EÜK 730 Gäste. »Die Stadt Straelen wird zum Mekka der Literaturübersetzer«*, hatte Heinrich Böll bereits1985 bei der feierlichen Einweihung des Hauses prophezeit.
Straelen, hübsch und verschlafen
Man sieht es der Stadt auf den ersten Blick nicht an, aber sie hat eine ziemlich lange Geschichte. Als früheste menschliche Zeugnisse fand man auf dem Gebiet des heutigen Straelen, so erzählt uns Wikideck, jungsteinzeitliche Feuersteinwerkzeuge. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war die Stadt sogar zwölf Jahre lang Teil der Französischen Republik bzw. des französischen Kernreichs.
Wer sich für Straelens Geschichte interessiert, wird in dem neben dem EÜK liegenden Stadtarchiv fündig. Von diesem Archiv einmal abgesehen, kann die Stadt jedoch nur mit wenigen kulturellen Highlights aufwarten. Ein kleiner Kulturverein bemüht sich immerhin, von Zeit zu Zeit ein wenig kulturelle Abwechslung zu bieten.
Umso mehr hat sich die Stadt zu einem Mekka nicht nur für Übersetzer:innen, sondern auch für Fahrradfahrer entwickelt. Auch für die Gäste des EÜK ist Fahrradfahren ein beliebter Ausgleich zur Schreibtischarbeit, weshalb das Kollegium mittlerweile über einen enormen Fuhrpark an Rädern verfügt.
Ein kleines Manko stellen allerdings die öffentlichen Verkehrsmittel dar: Obwohl Straelen bereits im Jahr 1878 an das Schienennetz angeschlossen worden war, stehen heute für nichtmotorisierte Besucher:innen nur ein paar wenige Buslinien und ein Taxibus zur Verfügung. Die nächstgelegenen Bahnhöfe befinden sich in den Nachbarstädten Geldern und Aldekerk.
»Mein« EÜK
Mein erster Arbeitsaufenthalt im EÜK fällt in das Jahr 2010. Ich übersetzte einen ägyptischen Roman aus dem Arabischen, der von einem koptischen Mönch aus dem 5. Jahrhundert handelte und sich intensiv mit der christlichen Theologie und Geschichte auseinandersetzte. Als Islamwissenschaftlerin kannte ich zwar das religiös islamische Vokabular, nicht aber das christliche. Schon damals konnte ich während meines zweiwöchigen Aufenthalts genauso viel von der unerschöpflichen Bibliothek im Haus profitieren wie von den Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund ihrer Herkunft oder beruflichen Spezialisierung einen großen Wissensschatz mit sich herumtrugen und nur allzu bereit waren, mich in ihren Arbeitspausen davon profitieren zu lassen.
Besonders beeindruckt hatte mich damals, auf welche Art wir Übersetzer:innen, eine marginalisierte und eher übersehene Spezies Mensch, im Hause empfangen wurden. Hier waren wir die Königinnen und Könige. Nie werde ich meine Verwunderung darüber vergessen, welch unermesslich großes Vertrauen uns Übersetzer:innen entgegengebracht wurde, dass wir in diesem wunderschönen denkmalgeschützten Gebäude mit einer einzigartigen Bibliothek wie in einer Wohngemeinschaft wohnen konnten. Es war das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, für seine Arbeit respektiert zu werden, zu einer irgendwie verschworenen Gemeinschaft zu gehören. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei allen Mitabeiter:innen des Kollegiums bedanken.
Neben den spontanen Begegnungen im Haus trafen wir uns auch zum wöchentlichen Stammtisch. Immer dienstags machten wir uns als Tross auf den Weg zum Steakrestaurant El Paso, das genügend Platz für große Gruppen bot. Und warum ausgerechnet dienstags? Claus Sprick, ehemaliger Präsident des Kollegiums, greift als Erklärung tief in die Geschichte zurück:
»So errichtete im 9. Jahrhundert der Kalif Al-Ma‘mun, der Sohn Harun al Raschids, in Bagdad das Bayt al-Hikmah, das Haus der Weisheit. Dort wurden die systematisch zusammengetragenen Werke griechischer Schriftsteller übersetzt. Der Kalif besuchte die Übersetzer, die vor allem aus dem christlichen Ausland kamen, jeden Dienstag, um sich beim Duft von Räucherstäbchen aus ihren Manuskripten vorlesen zu lassen, die er, wenn er sie für gut befand, mit Gold aufzuwiegen pflegte. Letzteres ist leider ganz aus der Mode gekommen – aber nicht von ungefähr treffen sich auch die Straelener Übersetzer jeden Dienstagabend zum Stammtisch, zünden mehr oder weniger wohlriechende Stäbchen an und sprechen über die Texte, an denen sie arbeiten.«
Mein bis dato kuriosester Aufenthalt war der im Januar 2020. Ich traf mich schon zum zweiten Mal mit meiner Mentee für ein paar Tage im EÜK in Straelen – auf der Strecke zwischen Helsinki und Lissabon – und empfand das als ungeheuren Luxus! Aber nicht nur das! Wir waren noch dazu die einzigen Gäste! Wegen Umbauarbeiten, die mit Lärm und Schmutz verbunden sein würden, waren keine weiteren Zimmer an Übersetzer:innen vergeben worden. Tatsächlich war es nach Büroschluss ein wenig unheimlich im Haus, denn die alten Gemäuer und Holzfußböden erzeugten eigentümliche Geräusche, und wenn es regnete, prasselte der Regen donnernd auf das Glasdach. Wir nahmen trotzdem unsren Mut zusammen und gingen auf Entdeckungstour, stiegen Treppen hoch und andere hinunter und besichtigten alle Zimmer. Keines glich dem anderen, aber eines hatten alle gemeinsam: Bücherregale an den Wänden.
Eine Bibliothek, in der man wohnen kann
Das Herzstück des Hauses ist die Bibliothek, und das Herzstück der Bibliothek sind die Wörterbücher und Nachschlagewerke, die für die Übersetzer:innen rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollen. Aus diesem Grund sind sie im offen zugänglichen Teil des Hauses untergebracht. Und weil die Bibliothek – aufgebaut von Klaus Birkenhauer und Dr. Regina Peeters, der heutigen Geschäftsführerin, in enger Zusammenarbeit mit dem Verband deutschsprachiger Übersetzer und dem Architekten Hubert von Ooyen, der den Durchbau der Häuser plante – immer weiter wuchs, wurde sie im Laufe der Zeit auf die Gästezimmer ausgeweitet.
Durch Nachlässe und Schenkungen wird die Bibliothek fortlaufend aufgestockt. Weggegeben werden keine Bücher. Wie lange wird es noch dauern, bis der letzte Zentimeter im Haus belegt ist?
Translator in Residence
Nachdem das EÜK nach langer pandemiebedingter Schließung im Juli 2021 endlich wieder öffnen konnte, durfte ich als erster Gast am 12. Juli meine ersten sechs Wochen des dreimonatigen Aufenthalts als Translator in Residence (TiR) antreten. Diese Einrichtung, 2002 ins Leben gerufen, um die Bedeutung und das Ansehen literarischer Übersetzerinnen und Übersetzer zu stärken, wird von der Kunststiftung des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Meine erste TiR-Zeit im Juli und August 2021 war pandemiebedingt äußerst ungewöhnlich. Anfänglich nur zu dritt im Haus, dann zu fünft, waren uns strengste Verhaltensregeln auferlegt: keine gemeinsame Nutzung von Gewürzen, kein gemeinsames Kochen, Desinfizieren von Küchentischen, Arbeitsflächen und Griffen von Schränken und Kühlschränken nach jeder Berührung. Jeder von uns hatte eine eigene Flasche Desinfektionsmittel, auf der die Zimmernummer notiert war. Verlassen des eigenen Zimmers ausschließlich mit Maske. Nur wenn wir zusammen in der Küche saßen – natürlich sehr weit auseinander – durften wir die Masken absetzen. Testen zwei Mal in der Woche. Und alle Gäste waren so weit wie möglich voneinander entfernt untergebracht, dass sie sich in den engen Fluren so selten wie möglich begegneten. Ein ausgeklügeltes System, das – man kann es wohl so sagen: Gott bzw. Frau Peeters sei Dank – die Pandemie bis jetzt vom EÜK ferngehalten hat.
Wir jedenfalls waren so dankbar, nach fast anderthalb Jahren Lockdown, Reiseverbot- bzw. -selbstbeschränkung, Homeoffice (des eigenen oder des Partners) endlich mal einen Ortswechsel vornehmen und im EÜK wohnen und arbeiten zu dürfen, dass wir all diese Vorschriften, zwar etwas schmunzelnd, aber allzu gerne befolgten.
Jetzt, im Jahr 2022, sind die Regeln etwas gelockert. Es finden wieder Seminare statt und die Anzahl der gleichzeitig im Haus lebenden Gäste ist gestiegen. Aber auch außerhalb des EÜK hat sich das Leben fast normalisiert und verschobene Veranstaltungen werden nachgeholt. Dadurch kam ich in den Genuss meines ersten und bisher einzigen kulturellen Events in Straelen: der Auftritt des Kabarettisten Christoph Sieber am 20. Mai 2022.
Auch er konnte es nicht lassen. »Ja, ich weiß«, sagte er gegen Ende, »es heißt nicht Strälen! Aber dann schreiben Sie es doch nicht mit e!«
[*Alle Zitate, die mit * gekennzeichnet und nicht mit einem Link hinterlegt sind, stammen aus: Warum ich so oft nach Straelen fahre. Gedanken, Erinnerungen und Erkenntnisse zum fünfundzwanzigsten Jahr des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V., Hrsg: Europäisches Übersetzer-Kollegium, Straelen 2003]—————————————————————————————–
Das EÜK für Gäste:
Wer sich für einen Aufenthalt bewerben möchte, findet alle wichtigen Informationen auf der Website.
Allerdings wird das EÜK ab Herbst 2022 für bis zu einem Jahr wegen dringender Umbaumaßnahmen geschlossen. Wann es nach der Sanierung wieder möglich sein wird, sich zu bewerben, entnehmen Sie bitte auch der Website.
Aktivitäten im EÜK
Jährliche Verleihung des Straelener Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW, die mit 25.000 Euro höchst dotierte Literaturauszeichnung in Europa.
Mehrmals im Jahr findet das Straelener Atriumsgespräch der Kunststiftung NRW statt, bei dem Autor:innen sich mit ihren Übersetzer:innen austauschen.
EÜK ist auch Gastgeber für Übersetzerwerkstätten, wie der jährlich stattfindenden Hieronymus-Werkstatt für Nachwuchsübersetzer:innen, Vice-Versa-Werkstätten und vielen weiteren.
Weiterführende Links:
Dr. Regina Peters: »Im Haus der fremden Sprachen«. Die Bibliothek des Europäischen Übersetzer-Kollegiums in Straelen.
https://www.bib-info.de/fileadmin/public/Dokumente_und_Bilder/Komm_OPL/Robinson-Buch/peeters.pdf
Tophoven Archiv
http://www.tophoven-archiv.com/blog/toledo
Happy Birthday EÜK: Übersetzen, April-Juni 1998 – 32. Jahrgang – Nr. 2
https://zsue.de/wp-content/uploads/2018/12/Uebersetzen-1998-02.pdf
Sehr geehrte Damen und Herren,
kann Ihr Literaturhaus auch nur besichtigt werden? Zwei an Literatur und Archtitektur interessierte Frauen würden sich eventuell gern das Atrium und/oder mehr anschauen.
Das Neue Jahr möge Ihnen nur Gutes bringen!
Herzlich
Barbara Rogge