© Yael Haelterman

Vielsprachige Oase im Museumsviertel – Das Amsterdamer Übersetzerhaus

Das Vertalershuis – Übersetzerhaus in Amsterdam ist eine dieser Oasen, wo Literaturübersetzenden die Möglichkeit geboten wird, sich in freundlicher und entspannter Atmosphäre ganz und gar ihrer Arbeit zu widmen und sich während ihres Aufenthalts mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt auszutauschen. 

Anders als seine „Verwandten“ z.B. in Straelen, Looren, Ventspils oder Visby liegt dieses Haus jedoch nicht in ländlicher Umgebung, sondern im Herzen der lebendig pulsierenden Weltstadt Amsterdam.

Die Autorin

Die Übersetzerin Andrea Kluitmann lebt dort seit vielen Jahren und ist dem Vertalershuis samt seinen Gästen sehr verbunden. Im Juni haben wir sie anlässlich der Wiedereröffnung des Hauses bereits vorgestellt.

In einem neuen Blogbeitrag in unserer Reihe über die Übersetzerhäuser international vermittelt sie nun ihre persönlichen Eindrücke. 

Andrea Kluitmann wurde 1966 in Emmerich geboren, einer kleinen Stadt an der niederländischen Grenze.

Sie übersetzt Kinder- und Jugendliteratur, Belletristik, Theaterstücke, Graphic Novels sowie Sachtexte aus dem Niederländischen ins Deutsche und ist Sprachtrainerin für Autor*innen und Kulturvermittler*innen.

Andrea Kluitmann hat Germanistik in Bochum und Amsterdam studiert, wo sie seit vielen Jahren lebt, weil sie die Stadt liebt, aber auch die relative Nähe zu Deutschland.

Zu den von ihr übersetzten AutorInnen gehören Gerbrand Bakker, Enne Koens, Anna Woltz und Lot Vekemans.

B.E.

Das Vertalershuis in Amsterdam – Eine vielsprachige Oase im Herzen von Amsterdam

von Andrea Kluitmann

Was wäre, wenn …

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre: Wieder in Deutschland zu leben (oder in Cornwall, oder auf  La Palma) und dann ab und zu einen Monat im Amsterdamer Übersetzerhaus zu verbringen.

Amsterdam Centraal Station
© Andrea Kluitmann

Vom Bahnhof aus würde ich in Tram 2 steigen, deren Route gemäß der Zeitschrift National Geographic Traveler zu den schönsten der Welt gehört. Ich steige an der Halte Museumplein aus und stehe gegenüber dem wunderbaren Concertgebouw; eine Karte für das gratis Lunchkonzert am kommenden Mittwoch habe ich schon reserviert. Nein,  zwei, weil sich im Haus sicherlich nette Begleitung findet.

Ich nehme den Weg hinterm Concertgebouw am Café Welling vorbei und stelle erleichtert fest, dass die wunderbare Kneipe noch da ist. Hier fühlt man sich wie in einem Wohnzimmer aus vergangenen Tagen, viele der Gäste haben was mit Literatur oder anderen Künsten zu tun, es gibt keine laute Musik, und für 80 Cent kann man ein hartgekochtes Ei bestellen.

©Teun Grondman

Direktorin Marije de Bie und Mitarbeiterin Machteld de Vries öffnen mir die Tür, begrüßen mich herzlich und zeigen mir mein Zimmer. Ich bin gespannt. Das gesamte Haus, das seit 1997 fünf Übersetzenden Zimmer mit eigenem Bad, eine gemeinsame Küche und eine Bibliothek bietet, wurde gerade nachhaltig renoviert. Nach einer über dreijährigen Pause fand im Juni dieses Jahres die feierliche Wiedereröffnung  statt. Die Zimmer tragen die Namen klassischer niederländischer AutorInnen: Unten ist das W.F. Hermans-Zimmer, im zweiten Stock wurden die Räume nach Annie M.G. Schmidt/Illustratorin Fiep Westendorp und Hella Haasse benannt und ganz oben auf der dritten Etage inspirierten Anton de Kom und Andreas Burnier. Im ersten Stock liegen Küche und Büro.

Die Räume sind alle mit guten Betten, ergonomischen Büromöbeln und doppelten Bildschirmen ausgestattet und mit sorgfältig ausgesuchten Möbeln eingerichtet. Die Räume sind alle unterschiedlich, oftmals dominieren ruhige Naturfarben. Das Zimmer der Kinderbuchautorin Annie M.G. Schmidt allerdings ist modern, bunt und rosa gestrichen – das war nun einmal ihre Lieblingsfarbe. Und bei Andreas Burnier wähnt man sich in ihrem Lieblingsland Griechenland; blau gibt hier den Ton an.

Im Haus wird Niederländisch gesprochen

„Und wer ist gerade da?“ ist meine erste Frage. Wahrscheinlich kenne ich die eine Kollegin oder den anderen Kollegen, entdecke aber auch mir völlig neue Namen. Besonders bei ÜbersetzerInnen ins Deutsche ist das Haus sehr beliebt. Seit jeher ist Deutsch die Sprache mit den meisten Übersetzungen aus dem Niederländischen. Oftmals gelingt es auch, ein Buch über die deutsche Übersetzung in andere Länder zu verkaufen, weil viele ausländische Lektor*innen und Verleger*innen zwar Deutsch lesen können, aber kein Niederländisch.

Vielleicht arbeitet eine Kollegin ja gerade an demselben Buch wie ich und übersetzt Anna Woltz ins Chinesische, oder Lot Vekemans ins Norwegische? Gut möglich. Wir setzen uns dann bald mal unten in der schönen Bibliothek zusammen und reden über Ähnliches und völlig Unterschiedliches. Könnten wir vielleicht einmal die Autor*innen einladen? Klar, und dann lernen sie vielleicht auch die anderen Übersetzerhaus-Bewohner*innen kennen.

Ich freue mich auf kurze Gespräche und lange Abende im Herzstück des Hauses, der Küche mit Wintergarten und Dachterrasse. Seit der Renovierung gibt es ein neues Fenster in der Küche, man schaut auf die lebhafte Wanningstraat. Auf der Dachterrasse kann man Sterne gucken. Mindestens an einem Abend möchte ich für alle kochen.

Dass man im Übersetzerhaus mit Menschen aus den fernsten Ländern Niederländisch sprechen kann, faszinierte mich auch bei den zahlreichen Interviews, die ich im Auftrag des Übersetzerhauses mit Gästen geführt habe, und die diesen erfundenen Ausführungen zugrunde liegen, somit also gar nicht so erfunden sind. Erst vor kurzem sprach ich zum Beispiel mit Jihie Moon, Übersetzerin Niederländisch – Koreanisch. Sie war besonders froh, im Anton de Kom-Zimmer wohnen zu dürfen.

Zimmer „Anton de Kom“
© Jihie Moon

 

 

 

„Postkolonialismus gehört zu meinen Forschungsgebieten und natürlich behandle ich Anton de Kom auch in meinen Seminaren als Universitätsdozentin.“ 

Das „natürlich“ erfüllte mich ein wenig mit Scham: Die Niederlande setzen sich erst seit wenigen Jahren ernsthaft mit ihrer Kolonialgeschichte auseinander und vermutlich kennt Jihie Anton de Kom länger als die meisten Niederländer.

Die Gäste im Übersetzerhaus lieben das Land, die niederländische Literatur und Sprache. Sie loben die gut angelegten Fahrradwege, die oft leichtfüßig geschriebenen Romane und die prägnante Sprache mit ihren vielen bildhaften Redewendungen und Metaphern

Wäre es nicht mal eine Idee, Übersetzerhaus-Bewohner*innen in niederländischen Schulen, Unis oder anderenorts von ihrer Leidenschaft erzählen zu lassen? An den Universitäten hierzulande werden zurzeit etwa die Hälfte der Bachelor-Studiengänge auch oder sogar ausschließlich auf Englisch beziehungsweise einer dem Englischen ähnelnden Lingua-Franca unterrichtet, und immer weniger Studierende entscheiden sich für das Fach Niederlandistik. Viele Jugendliche finden ihre Muttersprache längst nicht so cool wie Englisch, und lesen fast ausschließlich in der Fremdsprache. Wenn da zum Beispiel jemand aus den Vereinigten Staaten kommt und in fließendem Niederländisch erklärt, warum er oder sie die Sprache so sehr liebt, die ja nicht nur in den Niederlanden und Belgien gesprochen wird, sondern auch in Suriname, auf Aruba, Curaçao und Sint Maarten  – womöglich würde das den eingeschränkten eigenen Blick erweitern.

Für wen ist das Übersetzerhaus?

Aber zurück zu meinem fingierten Aufenthalt im Übersetzerhaus. Sogar fiktiv hoffe ich inständig, dass es mir gelungen ist, meine Abgabetermine so zu legen, dass ich nicht nur arbeiten muss!

Wer darf eigentlich hierher kommen? Man muss vom Nederlands Letterenfonds (NLF), der niederländischen Stiftung für Literatur, die für das Übersetzerhaus zuständig ist, als Übersetzer*in akkreditiert sein und man braucht einen Verlagsvertrag – wobei es da eine interessante Neuerung gibt: Übersetzer*innen, die noch nicht akkreditiert sind, mit einer Probeübersetzung jedoch positiv aufgefallen sind, können vom NLF persönlich eingeladen werden, sich für einen Aufenthalt im Übersetzerhaus anzumelden. Ziel dieser Ausnahme ist es, neue, junge und talentierte Übersetzer*innen zu unterstützen und zu motivieren, den eingeschlagenen Weg zu verfolgen.

 Mitten in der überschäumenden Stadt

Meine Tage im Übersetzerhaus sähen idealerweise etwa so aus: Früh aufstehen, einen Spaziergang durch den nahgelegenen Vondelpark machen, während die Touristen noch schlafen (mit zwanzig Millionen Übernachtungen pro Jahr leidet Amsterdam eindeutig an Overtourism) und um neun Uhr vor dem Rijksmuseum stehen, um etwa anderthalb Stunden in aller Ruhe schauen zu können. Danach einen Kaffee, am liebsten draußen im Museumsgarten. Solche Morgen verbringe ich auch im Van Gogh-Museum, im Stedelijk, im Fotomuseum Foam und im Grachtenhausmuseum Van Loon, alle zu Fuß erreichbar. Ich besuche das Gemeindearchiv und das Tropenmuseum. Und Het Schip, das Museum über die Architekturrichtung Amsterdamse School, deren Begründer besseren Wohnraum für Arbeiterfamilien schaffen wollten.

Brouwersgracht
© Andrea Kluitmann

Am Nachmittag kehre ich zurück in das wohlhabende, ruhige, grüne Viertel mit den wunderschönen Häusern. Und für eines dieser Häuser, erbaut 1889, besitze ich vorübergehend einen Schlüssel, für die Van Breestraat 19. Noch schnell in der Küche eine Thermoskanne Tee machen; eine Tasse ist zu gefährlich, weil die Treppe zu meinem Zimmer sehr steil ist, typisch für alte Amsterdamer Häuser. Machteld und Marije sitzen noch im Büro und die Tür steht offen. Ich frage, ob ich morgen vielleicht mal vorbeischauen kann. In meinem Text kommen auffällig viele Gebäckwaren vor. Die habe ich alle gegoogelt, aber ich vermute, dass mehr dahintersteckt. Urker dikkoek, poffert, duivenkater. Und schwingt in der Szene, die ich ihnen gern vorlesen möchte, bei den nonnenvotten (Nonnenhintern) vielleicht Blasphemie mit? Wie bekannt ist dieses Hefegebäck außerhalb der Provinz Limburg?

Ich setze mich an meinen Schreibtisch und arbeite ein paar Stunden konzentriert.

Abends gehe ich mit Freunden ins Theater, wir treffen uns im De Brakke Grond, einem flämischen Kulturzentrum in Nähe des Rotlichtviertels. Ich fahre schnell mit einem der Fahrräder hin, die im Keller für die Gäste bereitstehen.

Am nächsten Tag ist eine Buchvorstellung in der Buchhandlung Het Martyrium, gleich um die Ecke. Ein mir unbekannter Roman, der interessant klingt, vielleicht auch für einen deutschen Verlag, der gerade nach Titeln sucht. Außerdem kenne ich die Verlegerin.

 Unterwegs im Land

Die Niederlande sind klein, von Norden nach Süden sind es etwa 300 Kilometer und von Westen nach Osten 200, aber es gibt viel zu sehen und zu tun. Ich möchte auch noch Ausflüge mit dem Zug machen: in den Norden in die schöne Stadt Groningen, nach Maastricht im Süden des Landes und natürlich ans Meer, das nur zwanzig Minuten mit dem Zug von Amsterdam entfernt ist. Und nach Dordrecht: eine meiner Lieblingsstädte, eine der ältesten Städte der Niederlande in der Nähe von Rotterdam.

Ich bin froh, einen ganzen Monat im Übersetzerhaus bleiben zu dürfen, man kann zwischen zwei Wochen und zwei Monaten hier wohnen.

Auf der Nescio-Brücke
© Andrea Kluitmann

Nelleke van Maaren

Die Idee für das Amsterdamer Übersetzerhaus stammte von der Übersetzerin Nelleke van Maaren (1941-2014), die aus dem Französischen und Deutschen ins Niederländische übersetzte. Als sie 1985 ein paar Monate in Berlin verbrachte, um an der Übersetzung eines Romans von Botho Strauss zu arbeiten, merkte sie, wie sinnvoll ein solcher Aufenthalt war. Kurz danach lernte sie auch das 1978 gegründete Europäisches Übersetzerkollegium in Straelen kennen. Gemeinsam mit anderen schaffte sie es 1992, das erste Amsterdamer Übersetzerhaus für zwei ÜbersetzerInnen zu realisieren, Vorläufer des heutigen, viel größeren Hauses.

            2020, im letzten Jahr vor der vorübergehenden Schließung wegen Corona und Renovierung, waren 43 ÜbersetzerInnen aus 20 Ländern zu Gast im Amsterdamer Übersetzerhaus. Die vielen Anfragen für den Rest des Jahres 2023 lassen darauf schließen, dass ÜbersetzerInnen sehr gerne eine Weile hier arbeiten. Das Amsterdamer Übersetzerhaus heißt sie herzlich willkommen.

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