© Margherita Carbonaro

Übersetzen in baltischer Ostseeluft – das Schriftsteller- und Übersetzerhaus Ventspils

Teil 3 unserer Serie über Übersetzerhäuser und –kollegien:  Die italienische Übersetzerin Margherita Carbonaro berichtet von ihren Aufenthalten im Schriftsteller- und Übersetzerhaus Ventspils in Lettland.

Die Tochter eines Sizilianers und einer Lettin wurde 1964 in Mailand geboren. Ihr polyglottes Wesen ist sicherlich einer der Gründe ihrer Leidenschaft für Sprachen und Literatur. Es sorgte auch dafür, dass es sie in die Welt hinaustrieb: Sie lebte z.B. mehrere Jahre in Berlin und Peking.

Um mit Ruhe und Konzentration an ihren Übersetzungen arbeiten zu können, schätzt sie die Möglichkeit der Aufenthalte in Übersetzerhäusern, wie z.B. im Europäischen Übersetzerkollegium und dem Übersetzerhaus Looren. Seit ein paar Jahren kommt sie regelmäßig nach Ventspils. Hier hat sie ihre lettischen Wurzeln wiederentdeckt.

Seitdem übersetzt sie neben deutschsprachiger Literatur auch aus dem Lettischen ins Italienische.

Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören u.a. Max Frisch, Thomas Mann, Herta Müller, Uwe Timm sowie aus dem Lettischen Regina Ezera, Nora Ikstena, Zigmunds Skujiņš und Juris Zvirgzdiņš.

Sie lebt heute im bayrischen Landshut, in Airuno in der Lombardei und in Pozzallo auf Sizilien. Inzwischen verbringt sie gern so viel Zeit wie eben möglich in Lettland – in Ventspils oder Riga.

Übersetzen, Kultur und Meeresluft atmen im Schriftsteller- und Übersetzerhaus Ventspils

von Margherita Carbonaro

Beeren- und Pfifferlingssaison

Heute gehe ich zuerst auf den Markt in Ventspils. Danach werde ich mich an meinen Schreibtisch setzen und arbeiten. Es ist Erdbeer-, Blaubeer-, Himbeer- und Pfifferlingssaison. Blaubeeren und Pfifferlinge habe ich vor ein paar Tagen bei einem Waldspaziergang selbst gepflückt. Unmengen von Blaubeeren boten sich meinen Augen und Händen dar, und ich ärgerte mich fast, dass ich sie nicht alle pflücken konnte. Die Pfifferlinge hingegen versteckten sich unter dem Gras und der Unterholzdecke, und man musste sie ausfindig machen, dann Finger und Messer in die Erde hineinstecken, um den festen, knackigen Stiel abzubrechen und darauf achten, dass die Blumenkrone nicht abriss. Am Abend habe ich meine Handvoll Pfifferlinge, die frisch aus dem Wald kamen, in der Pfanne gebraten. Sie waren wunderbar.

Deswegen kaufe ich heute auf dem Markt weder Pfifferlinge noch Heidelbeeren, sondern Erdbeeren. Außerdem kaufe ich dunkles lettisches Brot, das immer etwas würzig ist, einen großzügigen Strauß Dill (in Italien nicht erhältlich), māzsalīti-Gurken, d. h. leicht gesalzen, ein Stück geräucherte Hausmacherwurst und einen runden Laib Frischkäse mit Kümmel. Zusammen mit geräuchertem Fisch sind das meine Lieblingsspeisen in Lettland.

Ein ehemaliges Rathaus als Haus für Literaturschaffende

Der Markt ist nur zweihundert Meter vom Schriftsteller- und Übersetzerhaus Ventspils entfernt. Das Gebäude im Zentrum der Altstadt, in dem das Haus untergebracht ist, stammt aus dem 18. Jahrhundert und war einst das Rathaus. Seit 2006 beherbergt es sowohl Schriftsteller: innen als auch Literaturübersetzer: innen. In sieben Zimmern, darunter zwei Doppelzimmer, können sieben bis neun Personen wohnen. Es gibt natürlich eine Küche, und auch einen Speisesaal, eine kleine Bibliothek mit Büchern, die die Gäste hiergelassen haben – und vor allem Übersetzungen lettischer Literatur in andere Sprachen. Und einen kleinen Innengarten, in dem man die lettische Sonne genießen kann. Sie ist so sanft, sie heisst saulīte, Diminutiv von saule, der Sonne, die im Lettischen – wie übrigens auch im Deutschen – weiblich ist, und nie so heftig wie meine Mittelmeersonne.

Sogar Watson, der Hauskater, der eines Tages hier zugelaufen ist und sich so gut eingelebt hat, dass er nie mehr weg will, genießt saulīte im Gras oder auf einem alten Schreibtischstuhl, der ihm geschenkt wurde. Nicht umsonst ist er Stammgast eines Schriftstellerhauses.

Kater Watsons Freund sonnt sich vorm Eingang zum Haus © M.Carbonaro

Ich glaube, dass viele Schriftsteller und Übersetzer aus dem Ausland hier in Ventspils zum ersten Mal Lettisch gehört haben, diese Sprache, die für viele wahrscheinlich exotisch klingt und die mir sehr nahe ist. Hier habe ich übrigens angefangen, literarische Werke aus dem Lettischen ins Italienische zu übersetzen. Hier habe ich während mehrerer Aufenthalte an lettischen Büchern gearbeitet. Bücher von Autoren, die ich unbedingt nach Italien bringen wollte.

Lettische Literatur und Kultur ins Herz Europas holen

Aus dem Lettischen ins Italienische zu übersetzen ist für mich sehr wichtig, denn es bedeutet, ein Land, eine europäische Kultur vorzustellen, die noch wenig bekannt ist. Meine Zimmernachbarin während meines ersten Aufenthalts hier in Ventspils war die lettische Schriftstellerin Nora Ikstena, deren Roman Mātes piens ich später übersetzte (das Buch ist auch in Deutschland beim Klak Verlag unter dem Titel Muttermilch erschienen, in der Übersetzung meiner Kollegin Nicole Nau). Das Schriftsteller- und Übersetzerhaus in Ventspils bietet Übersetzenden aus dem Lettischen wichtige Unterstützung, indem es ihnen zum Beispiel die Möglichkeit gibt, ihre Sprachkenntnisse bei der hervorragenden Lehrerin Sintija Ozoliņa zu vertiefen.

Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich mit diesem Ort verbunden fühle. Aber alle Schriftsteller:innen und Übersetzer:innen, ganz gleich aus oder in welcher Sprache sie arbeiten, sind in Ventspils willkommen. Ein Rat an alle, die einmal hierherkommen möchten: Bewerbt euch rechtzeitig, denn normalerweise sind die Zimmer für mindestens ein Jahr im voraus ausgebucht. Was so viele Menschen hierher zieht, ist sicherlich die Ruhe, die schöne Natur – und natürlich das Meer, auf das ich gleich zu sprechen kommen werde.

Ein echtes Zuhause

Aber was das Haus so angenehm macht, sind Andra, Ieva, Iveta und Zeltīte! Sie leiten, verwalten, putzen und lieben es, seitdem das Haus eröffnet wurde. Und mit Freundlichkeit, Offenheit und Gastfreundschaft machen sie das Haus in Ventspils zu einem echten Zuhause.

Das Team:  Andra Konste, Ieva Balode, Iveta Līberga, Zeltīte Freiberga  ©M.Carbonaro

Ab und zu kocht Andra für alle: Es sind meist einfache und köstliche lettische Gerichte: Pfifferlinge in Soße mit Kartoffeln und Fleischklößchen zum Beispiel. Oder Zeltīte backt pīrādziņi, oder kocht Fischsuppe. Jetzt ist es Sommer und gestern hat Andra uns eine aukstā zupa zubereitet, eine kalte Suppe mit einer wunderbaren rosa Farbe, die mit Kefir, Rote Rüben, Dill, Gurken und Eiern zubereitet wird und die wir zusammen mit Salzkartoffeln gegessen haben. Es hat allen Nationalitäten und Sprachen gefallen, die im Moment vertreten sind: Lettisch, Deutsch, Ukrainisch, Italienisch, Englisch, Chinesisch. 

Meer und Ostseemöwenschreie

In Ventspils muss ich über das Meer sprechen. Aber zuerst möchte ich von den lauten Schreien der Möwen erzählen, die das Meer ankündigen, auch wenn man es nicht sehen kann. Ich habe festgestellt, dass Ostseemöwen größer und viel lauter sind als Mittelmeermöwen. Sie sind aufdringlich und ungestüm, aber ihr Geschrei stört mich nicht, besonders gegen Abend, wenn sie Kraft sammeln und die Luft erfüllen. Sie schreien, sie brechen ihre Schreie, sie verlängern sie. Der Himmel gehört ihnen, so wie die alten Häuser, über deren Dächern sie kreisen. Das Ende und der Anfang des Tages sind ihre Momente.

Zu Fuß durch alte Straßen bis ans Meer

Vom Schriftsteller- und Übersetzerhaus sind es gute 25 Minuten zu Fuß zum Meer oder knapp 10 mit einem der Fahrräder, die den Gästen zur Verfügung stehen. Wenn ich dort spazieren gehe, nehme ich gerne nicht den direkten Weg, sondern schlängle mich im Zickzack durch das Viereck aus alten Straßen mit meist ein- oder zweistöckigen Holzhäusern.

Die Kapteinu Iela in Ventspils
© M.Carbonaro

Und ich lese gerne die Straßennamen: Wellenstraße, Sandstraße, Oststraße, Fischerstraße, Kapitänenstraße, Gänsestraße, Armenstraße…

Hinter dem Strand erheben sich die Dünen. Nach einem leichten Anstieg auf dem Sand öffnet sich plötzlich der Blick auf das Meer. Heute ist das Meer ruhig, die Büsche auf den Dünen sind dicht, das Licht am Abend ist noch immer weit und tief.

Aber ich war auch schon im Winter in Ventspils, als die Dünen und der Strand mit Schnee bestreut waren. Öfter bin ich auf dem harten Sand am Wasser geradelt und mit gesenktem Kopf und einem Schal vorm Gesicht gelaufen, um mich vor Kälte und Wind zu schützen. Das Meer ist stark, es gibt Energie. Es schmilzt und zerstreut die Worte, die ich im Kopf habe.

Winter am baltischen Meer © M.Carbonaro

Ventspils – Festung am Fluss Venta

Ventspils bedeutet „Festung des Flusses Venta“. An der Mündung des Flusses errichteten die Ritter des Livländischen Ordens im 13. Jahrhundert eine Burg. Der Fluss Venta lässt mich immer an den italienischen Wind denken („vento“), und wer weiß, ob es nur ein Zufall ist, dass die Stadt auf Deutsch Windau heißt. Seit seiner Gründung ist Ventspils auch ein Hafen, der im Winter nie zufriert. Er ist nach wie vor ein wichtiger Ostseehafen, von dem aus Holz, Kohle, Rohöl, Metalle, Getreide und Fruchtsaftkonzentrate transportiert werden. Der Hafen prägt das Bild von Ventspils.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs flohen mehrere Tausend Letten aus Ventspils und von dieser Küste vor dem Vormarsch der Roten Armee auf die schwedische Insel Gotland. Unter ihnen war meine Mutter als Kind mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Die Küste von Kurland ist 90 Seemeilen (170 Kilometer) von Gotland entfernt. Es ist keine große Entfernung, aber die Überquerung im Herbst und Winter auf Fischerbooten war nicht einfach. Viele Boote sanken oder wurden getroffen. Das erste Mal war ich hier in Ventspils im Dezember. Ich wollte dem Meer eine Blume bringen. Ich kaufte eine weiße Nelke auf dem Markt, wickelte sie in Seidenpapier ein, um sie vor der Kälte zu schützen, und ging zum Strand. Dann näherte ich mich dem Wasser, das an diesem Tag sanfte, ruhige Wellen an Land zog. Ich stand dort und wusste nicht, welcher Welle ich die Blume anvertrauen sollte, schließlich warf ich sie fast blind hinein und sah zu, wie sie schwamm und dann verschwand.

Ventspils, Juli 2022

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