© Anja Kapunkt

Literatur und Kapuzinerkresse: Das Literatur – und Übersetzerhaus in Sofia

Zu Gast im Literature and Translation House in Sofia – die Übersetzerin und Fotografin Anja Kapunkt berichtet von ihren Eindrücken

Nach einer längeren Pause erscheint nun eine neue Folge der Reihe über Übersetzungshäuser International: Dieses Mal berichtet die Übersetzerin, Fotografin und passionierte Weltenbummlerin von ihrem Aufenthalt in Sofia.

Vor zwei Jahren war Anja Kapunkt Gast im dortigen Literature und Translation House.

Anja ist auf unserem Blog inzwischen schon fast eine Art Stammgast. Sie schrieb einen Artikel über ihre Zeit im Baltic Centre for Writers and Translators in Visby auf Gotland. Zwei weitere Beiträge auf unserem Blog bieten Einblick in ihre Arbeit  als Übersetzerin und Fotografin und ihr Foto-Projekt Plainly Visible.

Auch dieser Artikel ist wieder ein sehr facettenreicher Bericht über eine intensive Erfahrung an diesem Ort der Begegnung – Begegnungen mit Menschen in einer faszinierenden Stadt.

B.E.

Latinka 12, Sofia: Literatur und Kapuzinerkresse

von Anja Kapunkt

Alphabet

Während ich am Schreibtisch sitze, um diesen Text zu schreiben, ist es fast so gleißend wie vor zwei Jahren, als ich in Sofia zu Gast war. Kaum rühren konnte man sich vor lauter Hitze und wollte nichts als Melonen essen oder Kirschen. Das Literaturhaus in Sofia aber beherbergt seine Gäste nicht vorrangig zum Schwitzen, sondern um der bulgarischen Literatur Gehör zu verschaffen. Nun, dabei spreche ich nicht einmal Bulgarisch. Ich war trotzdem eingeladen, und zwar um bulgarische Übersetzerinnen für die Portraitreihe Plainly Visible – Photographs of Translators zu fotografieren. Unterstützt wurde meine Anwesenheit nicht nur vom Literaturhaus selbst, sondern auch vom Sofioter Goethe-Institut. 

Beleuchteter Schattenriss von Nenko Balkanski im Flur des Literaturhauses
Foto: Anja Kapunkt

Das Literaturhaus befindet sich in der Latinka-Straße mit der Nummer 12 – Латинка ist das bulgarische Wort für Kapuzinerkresse – und war einst Wohnhaus und Atelier des renommierten bulgarischen Malers Nenko Balkanski (1907 – 1977).

Das Haus organisiert Veranstaltungen und Seminare zur Literatur, zum Schreiben und zum Übersetzen, aber auch allgemein zur Literaturvermittlung.

Bibliotheks- und Veranstaltungsraum des Literaturhauses
Foto: Anja Kapunkt

Im Dachgeschoss befindet sich eine kleine Stipendiatenwohnung, die rund ums Jahr mehreren Gästen aus aller Welt die Möglichkeit zu einem Aufenthalt bietet. Im Garten vor dem Haus stehen Bänke, die kyrillischen Buchstaben nachempfunden sind, die einst Teil des bulgarischen Alphabets waren, nun aber aussortiert sind und das Ende ihrer Tage in neuer Mission als Sitzmöbel erleben. Das Projekt geht zurück auf eine Initiative der bulgarischen Autorin und Literaturvermittlerin Todora Radeva, die viele Jahre lang Programmdirektorin des Internationalen Sofioter Literaturfests war.

Ich selbst verfüge über ein paar rudimentäre Russischkenntnisse. Davon kann ich noch lange kein Bulgarisch, aber immerhin die kyrillische Schrift entziffern, was es ein wenig leichter machte, mich zurechtzufinden. Ich lese die Wörter langsam und mühevoll, und manchmal entschlüsselt diese minutenlange Mühe auch nur ein Wort wie сити фи́тнес = City Fitness – Werbeschild eines Sportstudios, von dem ich mich dann aber doch nicht werben ließ. So minimal kyrillisch vorgebildet, begegnete ich den in Sofia omnipräsenten Gelehrten Kyrill und Methodi. Überlebensgroß bedeutsam stehen sie vor der Sofioter Nationalbibliothek, und nach eben jenem Kyrill ist die kyrillische Schrift benannt. Hier eine Kurzversion zur Entstehung des Alphabetes (mit freundlicher Unterstützung von Wikipedia):

Die aus Thessaloniki stammenden Brüder Kyrill und Method waren byzantinische Gelehrte und Priester. Im 9. Jahrhundert betrieben sie gemeinsam die christliche Missionierung slawischer Völker. Sie schufen die erste Schrift für die altslawische Sprache – das glagolitische Alphabet. Zahlreiche Schüler von Kyrill und Method flohen nach Bulgarien, wo sie von Zar Boris I. freundlich empfangen wurden, und gründeten Schulen, die eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung des Christentums und der altkirchenslawischen Liturgie in Bulgarien spielten. Die zwei bedeutendsten Schulen waren die Schule von Ohrid  (heute Nordmazedonien), geleitet von Methods Schüler Kliment, und unter der Leitung von Naum die Schule von Preslaw (heute Weliki Preslaw in Bulgarien). In Bulgarien, wahrscheinlich an der Schule von Preslaw, wurde im 10. Jahrhundert das kyrillische Alphabet entwickelt und zu Ehren von Kyrill eben so genannt.

Ohne ablenken zu wollen, kommt mir bei der Verbindung von Sprache und Kirche gleich mein Ausflug ins Rila-Kloster in den Sinn. Ein spektakulärer Ort, der – vergleichbar einer Bach-Kantate – auch Ungläubige religiös verführt. Das Kloster, Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, ist auf erhebende Weise lebendig und farbenfroh und an einer geradezu spektakulär unmöglichen und entlegenen Stelle im Rila-Gebirge erbaut worden. Dessen Felsen ragen an den Flanken des Klosters steil in die Lüfte hinauf, vielleicht sogar direkt bis in den Himmel.

Innenhof des Rila-Klosters
Foto: Anja Kapunkt

Gesichter

Doch zurück nach Sofia: Auf die Spur des Hauses hatte mich unsere bulgarische Kollegin Neva Micheva gebracht, die aus dem Spanischen und Italienischen ins Bulgarische u.a. Roberto Bolaño und Primo Levi übersetzt, und die ich mehrfach in Sofia treffen konnte. Sie nahm mich zu einer Wanderung auf den Vitosha mit, den Hausberg am Fuße der Stadt, den man in Sofia von überall sehen kann. Mit Nevas Hilfe wurde ich in Verbindung gebracht mit einer Reihe von Kolleginnen, die ich für Plainly Visible fotografierte. So traf ich neben verschiedenen anderen Liliana Tabakova, die aus dem Bulgarischen ins Spanische und auch in die andere Richtung übersetzt und die mich mitnahm auf eine Tour durch das historische Universitätsgebäude. Lange Flure gingen wir entlang, öffneten und schlossen eine Vielzahl von Türen, stiegen Türme und Treppen hinauf (und zwischendurch auch wieder hinunter) und landeten schließlich vor einer Kuppel, unter der ein Teil der universitären archäologischen Sammlung ausgestellt ist. Ein zunächst skeptischer, dann äußerst hilfsbereiter Mitarbeiter des Wachdienstes entrieglte die Gittertüren, und so kommt es, dass Liliana Tabakova auf dem Foto für die Übersetzerinnen-Porträtreihe mit zwei Mammutzähnen abgebildet ist.

www.plainly-visible.org

Auch Lora Nenkovska, die aus dem Rumänischen ins Bulgarische übersetzt, erwartete mich zunächst in ihrem Büro der Universität, bevor wir uns für einen gemeinsamen Spaziergang durch das angrenzende Viertel entschieden. Sie erzählte mir ausführlich über die zeitgenössische rumänische Literatur und dass diese ihrer Ansicht nach Themen verhandelt, die ihr Heimatland Bulgarien aktuell gesellschaftlich gleichermaßen beschäftigten, in der zeitgenössischen bulgarischen Literatur aber noch eher selten zu finden waren. Auf mich wirkte das Land 2021 wie ein Land, das nicht so recht weiß, wohin mit sich. Ein Land, dessen Gesellschaft von Abwanderung gezeichnet war, ein Land, das vor allem von Alten und Kindern bewohnt war und dessen jüngere Erwachsenengeneration im zumeist westlichen europäischen Ausland Geld verdiente. Eine Generation Kinder, wie Lora es formulierte, die bei den Großeltern aufwuchs und die Eltern nur per Videochat oder an Feiertagen sah. Auf meiner dreistündigen Busfahrt ins Rila-Kloster fuhr ich durch zerfallene, verlassen wirkende Dörfer –  vor den Häusern hölzerne Pergolas, opulent überrankt von Weinreben mit Trauben wie aus eines Königs Festgelage. Damals war das Land ohne Regierung, und Neuwahlen standen an. Seither wurde bereits zweimal eine neue Regierung gewählt.

Positionen

Architektonisch hat die Sowjetunion in Sofia brutalistische Spuren hinterlassen, wie Straßenunterführungen aus Beton, in denen oft halbleere Ladenzeilen baufällig werden, und ein gigantisches Ehrenmal mit Soldatenfiguren in der Mitte der Stadt, das heute zumeist Treffpunkt der Skaterszene ist und dessen Figuren in den vergangenen Jahren mehrmals mit Farbe besprüht wurden, um die sozialistischen Helden in ein zeitgenössisches Licht zu rücken. Zum Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine z.B. hatte jemand den Soldaten die Hände rot gemalt. 2011 war das Denkmal zum ersten Mal umgestaltet worden und die sozialistischen Kämpfer hatten sich in amerikanische Superhelden verwandelt. Superman war mit von der Partie, aber auch amerikanisch kommerzielle Recken wie Santa Claus und der McDonalds-Clown. Die Aktion fand wenige Tage vor einer geplanten Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion statt, und innerhalb kürzester Zeit wurde die Bemalung von einer Gruppe russisch-bulgarischer Gegenaktivisten auch wieder entfernt.

Sowjetisches Ehrenmal in Sofias Zentrum
Foto: Anja Kapunkt

Und noch einmal zurück: Das Literaturhaus wird von einem kleinen Team rund um Yana Genova geführt und stellt Großartigstes auf die Beine: Veranstaltungen, Seminare, Konferenzen, Lesungen, Begegnungen von Literaturmenschen miteinander und mit einem Publikum. Während meines Aufenthaltes hatte ich nicht nur die Gelegenheit, mehrere bulgarische Kolleginnen zu fotografieren, sondern Yana und ihre Équipe organisierten ein Screening der Fotoreihe mit einem Gespräch zwischen mir und Maria Dobrevska vom Goethe-Institut im Sommerkino Kabana in der Sofioter Innenstadt, um auch ein breites, auf Sommer und Aperol Spritz eingestelltes Publikum auf das Übersetzen und dessen Gesichter aufmerksam zu machen.

Widerhall

Auch später, als ich längst wieder zuhause war, klang meine Zeit in Sofia noch auf angenehm anregende Weisen nach. 2022 organisierte ich im Literaturhaus Leipzig eine Gesprächsreihe über eine Auswahl an Ländern im Osten Europas (finanziert durch das Neustart Kultur Programm und den Deutschen Übersetzerfonds). Das Konzept der Reihe bestand daraus, jeweils einen Übersetzer/eine Übersetzerin aus einem der Länder ins Gespräch zu bringen mit einer Kollegin oder einem Kollegen aus dem deutschsprachigen Raum, die gemeinsam über die Entwicklungen der Literatur und der sich darin spiegelnden gesellschaftlichen Tendenzen sprachen. Einer der ersten Abende galt dabei der Literatur Bulgariens. Für diesen Abend lud ich Violeta Vicheva ein, die ich in Sofia kennengelernt hatte, da sie am Abend im Kabana-Kino für uns gedolmetscht hatte. In der Vorbereitung signalisierte sie mir übrigens sehr schnell, dass sie keinesfalls Lust habe, „schon wieder über Armut und Arbeitsmigration zu sprechen“, und so redeten wir z.B. über Georgi Gospodinovs Roman Zeitzuflucht (die deutsche Fassung stammt von Alexander Sitzmann), der kurz darauf als erstes bulgarisches Buch den International Booker Prize gewinnen sollte (in der englischen Übersetzung von Angela Rodel).

Zudem ergab sich wiederum noch etwas später die Gelegenheit, an der Translations Collider Academy im Mai 2022 in Nordmazedonien teilzunehmen, eine Konferenz, die die Literaturwelten der Balkanregionen untereinander in bleibende Verbindung bringen will, und die im Mai 2023 eine Fortsetzung in Albanien fand.

Es sind diese Möglichkeiten, sich zu begegnen und Gemeinsames zu entwickeln, die die Aufenthalte in den Übersetzerresidenzen dieser Welt so wertvoll machen. Man ist wieder zuhause und doch um so viel Erfahrung und Wissen klüger, ein bisschen kennerhafter und weniger kleinkariert, als wenn man nicht dort gewesen wäre. Ob es dazu beiträgt, dass Gespräche, wie Thomas Frahm sie im Vorwort seines 2014 erschienenen Buches Die beiden Hälften der Walnuss. Ein Deutscher in Bulgarien beschreibt, weniger häufig bis vielleicht gar nicht mehr in der Welt vorkommen?

„Ein … Klassiker ist der Bu-Bu-Effekt, der auch vor Menschen mit abgeschlossenem Hochschulstudium und Reiseverhalten, das über Stranddestinationen mit Sonnengarantie hinausgeht, nicht Halt macht. Er schlägt vorzugsweise auf Stehempfängen und anderen Small-Talk-Treffen zu:

‚Wo leben Sie eigentlich?‘

‚In Bulgarien.‘

‚Ah, in Bukarest?‘

‚Nein, die bulgarische Hauptstadt heißt Sofia.‘

‚Ach ja, natürlich, entschuldigen Sie. Und wie lebt es sich so in Rumänien?‘“

 

Благодаря und danke, Sofia!

Links:

https://www.npage.org/en/page?id=315

Georgi Gospodinov – Zeitzuflucht, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

Artikel der Süddeutschen Zeitung über die Superhelden am sowjetischen Ehrenmal: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kunst/denkmalerei-80876

Alle Fotos: Anja Kapunkt

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